Ein Interview mit Thomas Fengler zum Thema "gutes Führen"
Welche Führungspersönlichkeit schätzen Sie persönlich?
Ganz spontan fällt mir da als Erstes Chesley Sullenberger ein – der Flugkapitän der US Airways, der 2009 nach einem Triebwerksausfall diese spektakuläre Notwasserung auf dem Hudson hingekriegt hat. Der hat alles richtig gemacht. Dank seines jahrelangen Trainings, der Erfahrung von über 20.000 Flugstunden und mit der richtigen Eingebung, war er in der Lage, die perfekte Entscheidung zu treffen. Sein Leben wird seither von diesen drei dramatischen Minuten geprägt. Das fasziniert mich, denn es hätte auch anders kommen können. Ist es aber nicht, Gott sei Dank.
Sie selbst haben lange als Führungskraft gearbeitet und sind gewohnt, selber „voraus“ zu gehen. In welchen Situationen in Ihrem Leben lassen Sie sich führen?
Wenn ich beispielsweise in eine Situation gerate, die ich nicht beherrschen kann, da ich über keinerlei Fachwissen verfüge, um Herr der Lage zu werden. Der Mensch, der mich dann führt, muss mich jedoch zuerst mit seinem Fachwissen und seiner menschlichen Kompetenz überzeugen. Führung bedeutet für mich, auf einen bestimmten Weg gebracht zu werden. Das bedeutet zusätzlich, dass ich davon ausgehen darf, dass mein „Pfadfinder“ mir gegenüber wohlwollend handelt. Wenn ich einem Arzt nicht vertraue, dass er das nötige Fachwissen besitzt oder das Wohlwollen, mir wirklich helfen zu wollen, dann würde ich mich ja auch nicht von ihm behandeln lassen.
Sie sind einerseits ehemaliger aktiver Pilot. Darüber hinaus besitzen Sie Management-Erfahrung in Wirtschaftsunternehmen. Was unterscheidet das Führen eines Flugzeugs und seiner Crew vom Führen auf dem Boden?
Im Flugzeug ist eine Besatzung eine Schicksalsgemeinschaft. In dem Moment, in dem die Türen zugehen, ist allen Crewmitgliedern klar, dass sie in einem „Boot“ sitzen und das gemeinsame Unterfangen prinzipiell tödlich enden kann. Jeder Fehler der passiert, kann zu fatalen Folgen führen. Daher ziehen alle an einem Strang, denn alle wollen überleben. In einem Unternehmen finden Sie als Führungskraft solche radikalen, gemeinsamen Ziele nicht vor – es sein denn, Sie sind für eine „High-Risk-Organisation“ verantwortlich, wie etwa ein Kernkraftwerk. Ziele in Unternehmen sind im Gegensatz zur Luftfahrt oft leider in sich diffuser und lassen sich nicht immer explizit „greifen“. Deshalb lassen sich solche Systeme auch sehr viel schwieriger aussteuern.
Ein gemeinsames Ziel vor Augen zu haben, erleichtert also die Unternehmensführung?
Ja, denn ein gemeinsames Ziel ist auch immer erforderlich, um aus einem unechten Team ein echtes Team zu formen. Darin liegt die wahre Herausforderung. Das primäre Ziel einer Flugzeugbesatzung, die Kiste pünktlich und sicher von A nach B zu bringen und dabei bitteschön nicht abzustürzen, ist eine Art „Selbstläufer“, den Sie auf ein Unternehmen nicht Eins zu Eins übertragen können. Daher ist es leider häufig auch nur schwer zu vermitteln, warum die Anstrengung lohnen würde, zu allererst ein gemeinsames Ziel festzulegen. Hierfür fehlt nicht selten die Motivation. In Unternehmen denkt man einfach zu häufig, es könnte auch ohne Regelwerk klappen, ein echtes Zusammengehörigkeitsgefühl zu entwickeln.
Wie würde Ihr Appell an die Führungsetage und die Belegschaft eines Unternehmens lauten?
Seht zu, dass Ihr ein gemeinsames Ziel definiert, das von allen verstanden und als erstrebenswert erachtet wird. Das ist für mich die Basis für den Transfer des CRM aus der Luftfahrt in die Welt der Unternehmen am Boden.
Wie funktioniert dieser Knowhow-Transfer aus dem Flugsimulator in die Realität?
Stellen Sie sich folgende Situation vor: Ein Seminarteilnehmer hebt mit mir als Instruktor vom New Yorker Flughafen La Guardia ab. Der Teilnehmer hat die Rolle des Kapitäns inne, ich als Co-Pilot sitze also rechts. Kurz nach dem Start ist plötzlich ein lautes Alarmklingeln im Cockpit zu hören. Gleichzeitig leuchten mehrere rote Warnlampen auf – denn ein Triebwerk hat Feuer gefangen. In diesem Moment wäre es die Aufgabe des Kapitäns, das Flugzeug weiterhin auf Kurs zu halten, während der Co-Pilot für das Abarbeiten der Checkliste in diesem besonderen Notfall verantwortlich ist, um das brennende Triebwerk stillzulegen und zu löschen. Die Rollenverteilung ist also klar. Doch in der Realität passiert es regelmäßig, dass der Seminarteilnehmer beobachtet, wie ich an den unterschiedlichen Schaltern die Checklisten abarbeite. Aus diesem Grund verliert unser Flugzeug an Höhe oder kommt vom Kurs ab oder beides. Das bedeutet, dass der Kapitän seine eigentliche Aufgabe vernachlässigt, indem er sich durch die Krisensituation und seinen Co-Piloten ablenken lässt.
Das ist doch aber ganz menschlich...
… aber genau darin steckt eine große Gefahr: Einer muss nun mal das Flugzeug fliegen und möglichst stabil in der Luft halten. Doch erst, wenn ich den Kapitän mit den Worten „You fly the aircraft“ wieder in seine angestammte Situation zurückschicke, wird er sich seiner Ablenkung bewusst werden und sich wieder auf seine eigentliche Aufgabe konzentrieren. Wenn dann der Autopilot das Fliegen wieder übernehmen kann, reflektiere ich mit den Seminarteilnehmern sofort die eben bewältigte Krisensituation. Wir überlegen dann, wie solch ein Szenario im jeweiligen Unternehmen aussehen könnte. Die Teilnehmer nennen hier häufig sehr rasch Negativ-Beispiele aus ihrem täglichen Berufsleben. Meine Frage lauten dann: Haben Sie als Führungskraft Ihre Rolle in der damaligen Situation gekannt oder sofort festgelegt und sich dann auch daran gehalten? Haben Sie das Team mit klaren Aufgaben betraut und selbst nur Ihre Aufgaben wahrgenommen? Oft dämmert ihnen die Erkenntnis nach nur wenigen Augenblicken: „Nein, ich habe mich ablenken und aus der Ruhe bringen lassen. Ich habe versucht, mich um alles selber zu kümmern. Ich habe meinem Team keine klaren Handlungsanweisungen gegeben. Im Ergebnis habe ich als Chef meine eigentliche Führungsaufgabe aus den Augen verloren.“
Der Transfer im CRM-Seminar gelingt also dadurch, dass ich die Seminarteilnehmer im Cockpit gewissen Situationen aussetze, die Fehler provozieren, um diese dann mit bereits gemachten Fehlern aus der Unternehmensrealität in Verbindung zu setzen.
CRM wurde eigens für die Luftfahrt entwickelt, um Fehlerquoten zu minimieren. Auch hier arbeiteten früher oftmals keine echten Teams, weil gerade die Kapitäne häufig einsame Entscheidungen gefällt haben. Wie unterstützt CRM das Teambuilding und wie kann es Führungsqualität verbessern?
Im Grunde sind lediglich einige wenige Kommunikationsregeln zu beachten: Die Kommunikation muss klar rüberkommen, direkt, prägnant und rechtzeitig sein. Der Sender muss kontrollieren, ob der Empfänger die Botschaft verstanden hat. Und in der Führungsriege lehrt das CRM vor allem, Wohlwollen zu entwickeln. Je wohlwollender das Verhalten, desto vertrauensvoller und angstbefreiter kann die Kommunikation zwischen den Hierarchie-Ebenen sein.
Was sind aus Ihrer Sicht die häufigsten Führungsfehler, die Ihnen in Ihren Seminaren begegnen?
Die meistens Führungsfehler sind eigentlich Kommunikationsfehler. Führen ist ein Katalog aus verschiedenen Anwendungen. Das Führen entsteht aus der Fachkompetenz, dem Verhalten und der Position, in die die Führungsperson gesetzt wurde. Und die Schnittstelle zwischen Führendem und Geführtem ist immer die Kommunikation.
Welches sind die häufigsten Kommunikationsfehler, die ein fehlerbehaftetes Ergebnis hervorrufen?
Es wird meist entweder zu viel oder zu wenig kommuniziert. Oder das Sender-Empfänger-Problem wird nicht erkannt oder berücksichtigt. Daher werden ausgesandte Botschaften oder Anweisungen manchmal gar nicht empfangen. Häufig mangelt es aber auch schlicht an der Kontrolle, ob das Gesagte auch richtig verstanden wurde. Das sind die häufigsten Störfaktoren, die dann zu den bekannten Missverständnissen führen, aus denen Fehler entstehen, aus denen wiederum Ängste und Schuldgefühle erwachsen. Und so verschlechtert sich langsam aber sicher die Beziehung zwischen den kommunizierenden Personen.
Gibt es denn weitere Führungsfehler, die nicht auf Kommunikationsfehlern beruhen?
Es gibt noch verhaltensbedingte Fehler: Es kommt leider häufiger vor, dass die „Leader“ keine Vorbilder sind und von ihren "Followern" Dinge verlangen, die sie selbst nicht einhalten. Ein Beispiel: Wenn in einem Unternehmen während der Dienstzeit ein striktes Alkoholverbot herrscht, sollte der Chef mit dem Kunden am Nachmittag kein Glas Prosecco trinken. Oder der Chef gibt an die Belegschaft die Direktive aus, absolut pünktlich zu Meetings zu erscheinen, doch er selbst kommt ständig zu spät. Häufig fehlt dann sogar die Einsicht. Der Chef sagt dann: „Ich bin der Chef, ich darf das." Das ist in meinen Augen der größte Irrtum, dem er erliegen kann – es ist der größte Fehler.
Viele Menschen assoziieren mit Führung auch Begriffe wie „Macht“ und „Autorität“. Und viele Menschen hegen dagegen eine gewisse Abneigung. Machtmissbrauch spielt jedoch sicher nicht nur im politischen Leben eine zentrale Rolle. Könnte man Machtmissbrauch auch zu den Führungsfehlern hinzuzählen?
Ja, doch am Ende handelt es sich oft „nur“ wieder um Kommunikationsfehler. Allein durch die Wahl Ihrer Worte, aber auch den Tonfall, können Sie eine unheimliche Macht ausüben. Worte können sehr scharfe Waffen sein. Aber auch im Verhalten kann sich die Ausübung von Macht negativ niederschlagen. Dabei ist Macht an sich überhaupt nichts Negatives, sondern hin und wieder sogar notwendig; das wird heutzutage in der Gesellschaft oft verkannt. Aber Macht nur der Macht wegen zu demonstrieren, ist eine sehr problematische Angelegenheit, denn so missbraucht man sie. Es gibt nicht wenige Führungspersönlichkeiten, die ihre Macht nicht dafür einsetzen, um Menschen zu leiten oder zu führen, sondern um Menschen zu beherrschen. Übrigens geschieht das manchmal ohne böse Absicht, weil es einfach leichter ist, zu beherrschen als zu leiten.
Warum ist das so?
Menschen zu beherrschen ist im ersten Augenblick weniger anstrengend. Denn um leiten zu können, muss ich mich mit den individuellen Bedürfnissen der Menschen auseinandersetzen. Wenn Sie jemanden leiten wollen, dann müssen Sie ihn auf Ihre Seite hinüberziehen, da er Ihnen sonst nicht folgen wird. Wenn Sie dagegen jemanden bloß beherrschen wollen, dann zwingen sie ihn einfach – ob er nun will oder nicht.
Und welchen Vorteil hat das Leiten?
Das Leiten bringt Menschen dazu, ihre volle Leistungsfähigkeit zu entfalten. Ein Mensch, der zu etwas gezwungen wird, macht dagegen nur das Nötigste. Er sieht gewisse Situationen nicht ein, arbeitet stumpf sein Pensum ab, denkt weder mit noch wird er antizipieren. Er verrichtet seine Arbeit zumeist missmutig, wird häufiger krank und flüchtet in den „Dienst nach Vorschrift“. Derjenige, der geleitet oder gelenkt wird, kann hingegen eigenen Antrieb und Perspektiven entwickeln. Er hat Lust an seiner Arbeit. Und er verfolgt diejenigen Ziele für sich, die durch Führungskräfte gefördert werden.
Was machen gute Führungskräfte im Gegensatz richtig?
Gute Führungskräfte beschäftigen sich mit ihren Mitarbeitern. Sie fördern ihre Mitarbeiter. Sie befehlen nicht. Gute Führungskräfte sind kritikfähig, erscheinen nicht beratungsresistent, stellen Fragen und hören den Antworten interessiert zu. Das können jedoch nicht viele, aber sie könnten es lernen. Naturtalente besitzen jedoch eine empathische Grundbegabung und die Fähigkeit, auch mal in den Hintergrund treten zu können. In meinen CRM-Seminaren werde ich jedoch auch immer mal wieder mit sogenannten „Alphatieren“ konfrontiert; Menschen, die sehr Ich-bezogen auftreten – oft auch einen Hauch narzisstisch. Diese Menschen neigen dazu, um sich selbst zu kreisen und wenig bis überhaupt nichts von anderen Menschen anzunehmen. Doch leider geht ihnen dadurch vieles verloren.
Nach dem CRM werden vor allem drei Dinge als wichtig angesehen. Vertrauen, Fachkompetenz und Wohlwollen: Können Sie diese Begriffe erklären?
Vertrauen entsteht durch angstfreie Kommunikation in beide Richtungen. Das bedeutet, dass Dinge wie Probleme offen angesprochen werden dürfen, ohne dass sich daraus negative persönliche Konsequenzen ergeben. Eine Führungskraft braucht selbstverständlich eine gewisse Fachkompetenz, um die richtigen Entscheidungen treffen zu können. Und das Wohlwollen ist elementar, da ansonsten kein Vertrauen entstehen kann. Ohne Wohlwollen ist eine angstbefreite Kommunikation schlichtweg nicht möglich.
Was war der bemerkenswerteste Lernerfolg, den Sie in einem Ihrer Seminare erlebt haben?
Lernerfolge gibt es tatsächlich viele und das sogar regelmäßig. Aber ein Seminar ist mir tatsächlich besonders in Erinnerung geblieben: Damals hatte ein Dienstleister seine Kunden eingeladen, worunter sich auch zwei Wettbewerber befanden. Durch Zufall saßen ausgerechnet die Geschäftsführer der konkurrierenden Firmen während der sehr herausfordernden Abschlussübung gemeinsam im Cockpit. Sie sollten auf dem internationalen Flughafen von Madeira landen, der extrem schwierig anzufliegen ist. Doch die Landung gelang ihnen tadellos. Als die beiden dann später nebeneinander beim Abendessen saßen, waren sie so begeistert von ihrer Zusammenarbeit, dass sie beschlossen, zukünftig auch im Geschäftsleben zu versuchen, Synergien zu entwickeln und zu nutzen. Das fand ich schon sehr beeindruckend.
Was ist in Ihren Augen der größte Erfolg, den eine Führungskraft erreichen kann?
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Das Interview führte die Autorin Julia Kottkamp aus Hamburg
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