Dienstag, 19. Juni 2018

Die Gefangenschaft im „ist“

Veränderungen treibt der Mensch nur dann voran, wenn ihn eine klare und positive Perspektive motiviert. Das ist bekannt und hinlänglich erforscht.

Leider bezieht sich diese Motivation immer auf die eigene Person, also nicht auf das Unternehmen oder die Gesellschaft. Hier nützt auch das Wissen nichts, dass diese Veränderung, der Sache wegen, dringend notwendig ist – auch nicht neu.

Wir leben in der Dominanz des „Ist“. Das „Ist“ entwickelt eine eigene Kontrollzone.
Dinge und Abläufe werden selbstverständlich und Routine. Dieses Phänomen entdeckte schon der bekannte Fehlerforscher James Reason bei seinen Forschungen über die Ursachen fehlerhafter Handlungen.
Er beschreibt, wie Objekte eine eigene Kontrollzone des Handelns entwickeln, obwohl die Handlung selbst manchmal gar nicht beabsichtigt ist oder zum Ziel führt.



Es gibt zwei neue Begleitumstände in unserer Gesellschaft, welche die Folgen aus dieser Erkenntnis erheblich verschärfen:
  1. Durch die intensive Nutzung sozialer Medien, in nahezu allen Bevölkerungsgruppen, betonen wir das „Ist“ über.
 Was wir früher ein Mal am Tag in den Nachrichten gehört oder in den Zeitungen gelesen haben, konsumieren wir heute zigmal täglich. Die Information prägt sich dadurch viel intensiver ein. So entstehen Hypes des „Ist“, die uns den Fokus auf die Zukunft noch mehr verengen.
  2. Früher gab es eine kleine Zahl gut ausgebildeter Journalisten – die durch Verlage oder Sendeanstalten kontrolliert – ihre Beiträge einigermaßen gut recherchierten. Gelang das mal nicht (z.B. Hitler Tagebücher) wurde das zu einer breit wahrgenommenen Nachricht.
 Heute fluten Informationen mit unkontrolliertem Wahrheitsgehalt die sozialen Medien und wir konsumieren sie nahezu pausenlos.
 Ich habe mir mal die Mühe gemacht, zwei Wochen lang Nachrichten aus mir seriös scheinenden Quellen auf inhaltliche Richtigkeit zu prüfen. Das Ergebnis war erschreckend.
 Bei gut 80% der Inhalte habe ich schwere inhaltliche Fehler oder massive, sinnverfälschende Übertreibungen festgestellt.
 Dabei trat noch eines zu Tage: der Hype nährt sich selbst (größer, noch größer am größten ...)
 Warum ist das so? 
Heute schreibt in den Medien jedermann, selbsternannte Experten, Ideologen und Hobbyjournalisten. Sie brauchen Aufmerksamkeit, nur das sichert ihre Existenz.
 So entstehen Fake-News oft nur aus Sensationslust oder ideologischer Verblendung.
Diese Überwahrnehmung des „Ist“, gefüttert mit einem Bild der Wirklichkeit, das oft nicht der Wahrheit entspricht, ist die neue Gefahr. Die Bereitschaft, uns mit Zukunftsperspektiven ernsthaft, in Ruhe und unvoreingenommen zu beschäftigen sinkt dadurch noch mehr. Das trifft auf jede Bevölkerungsgruppe und jeden Bildungsgrad zu.

Dazu kommt die Trägheit des Wohlstands, die uns müde werden lässt. Unbequemlichkeiten auf uns zu nehmen und Dinge in Richtung Zukunft, mit Weitblick, zu gestalten, ist irgendwie out.
Wir lassen Entwicklungen einfach geschehen, obwohl wir wissen, dass sie uns nicht zum Ziel führen.
Kommt dann noch jemand und sagt, dass diese (Fehl-)Entwicklung doch verständlich ist und vielleicht auch richtig, dann werden die Gitterstäbe des „Ist-Gefängnis“ noch fester.
Besonders gefährlich ist es, wenn eine breite Gruppe (auch etablierter Medien) noch in diese Hörner bläst, mit welcher Motivation auch immer.
Aus Politik und Wirtschaft kann ich Ihnen viele Beispiele dazu nennen.

Doch wie zerbrechen wir diese Gitterstäbe unserer „Ist“-Gefangenschaft?

Mit dem Crew-Resource-Management (CRM) der Verkehrsluftfahrt ist das gelungen, nachdem Forscher die entscheidende Voraussetzung dafür gefunden haben:
die Umgebung psychologischer Sicherheit.

Nur ohne Angst vor den Risiken zwischenmenschlicher Beziehungen kann offene Kommunikation und Austausch gedeihen. Nur so liefern Andersdenkende Beiträge zu Aufgabenstellungen, auf die im Dunstkreis der eigenen Kontrollzone bisher niemand gekommen ist. Nur so werden Fehler offen benannt und für die Zukunft daraus gelernt.

Wie schwer uns das fällt, ohne Vorurteil und vorschnelle Bewertung zu agieren, erlebe ich bei Managertrainings im Cockpit-Simulator bei der ersten Übung zur Entscheidungsfindung fast jedes Mal.
Hier ist es die Aufgabe, unter Druck, den ich authentisch entstehen lasse, eine Entscheidung zu treffen. Das Team soll die FORDEC-Methode anwenden.
Das heißt, mit allen Teammitgliedern zunächst die Fakten nennen, dann alle Optionen ohne Bewertung sammeln und als drittes eine Risikoabwägung durchführen. Das Ganze soll der Kapitän moderieren, der zuvor ernannt wurde.

Obwohl dieses Procedere wenige Minuten vorher am Tisch besprochen und für gut befunden wurde, gelingt es beim ersten Mal niemandem!
Fakten werden mit Optionen vermischt, Bewertungen mit Fakten und so weiter.
 Dabei gibt es meist einen Wortführer – der oft nicht der ernannte Kapitän ist.
Das Ende vom Lied ist: die richtige Entscheidung wird innerhalb der zur Verfügung stehenden Zeit nicht gefunden.

Erst mit meiner Moderation, streng am FORDEC-Modell, erreicht das Team die Lösung, die dann der Kapitän als Entscheidung – fast immer einvernehmlich – nennen kann.

Und – unabhängig ob dort eine erfahrene Vorstandsgruppe oder ein Nachwuchsmanager-Team am Zuge ist: alle reagieren nahezu gleich.

Der Mensch muss die richtigen, zukunftssichernden Verhaltensweisen des Miteinanders trainieren, denn sie sind ihm, wie oben geschrieben, nicht in die Wiege gelegt. Und sie bestimmen auch nicht unseren Umgang mit dem täglichen „Ist“.

Piloten und Ihre Crews trainieren das, mehrmals im Jahr.
Das Trainieren und Reflektieren von Verhaltensmustern als Teamleader und Teammitglied ist genauso Teil ihres Berufslebens, wie ihr reines Fachwissen, ein Flugzeug zu fliegen oder zu versorgen.

Erst als diese Erkenntnis der CRM-Forscher im Arbeitsalltag von Crews umgesetzt wurde, ist die Luftfahrt den entscheidenden Schritt in ihre sichere Zukunft gegangen.

Fangen Sie noch heute an aus der Gefangenschaft des „Ist“ auszubrechen!

Quellen:

James Reason – A Life in Error (2013)

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